BIKE SHOOTING





Ein mysteriöser Bike Shooter hält die Polizei in Atem und stellt Motorradbullen Marko Gehmaier vor den bislang kniffligsten Fall seiner Karriere. Und das, wo er gerade frisch verliebt ist und mehr Zeit mit seiner Angebeteten verbringen wollte. Aber auch die Traumfrau scheint etwas zu verbergen - und Marko ist fest entschlossen das Geheimnis zu lüften...


Prolog

 

Die Stelle war sorgsam ausgesucht. Lange hatte es gedauert, bis sie gefunden worden war. Sie lag über einem großen Portal aus Beton, das in einen kleinen Tunnel führte. Eine Lawinengalerie, ein Schutz vor den Gewalten des Schnees und des Gerölls sollte das Bauwerk sein, sollte Autos, Motorräder und Radfahrer vor den Unbilden der Natur, die hier in den Bergen wüten konnten, schützen. Doch nun wurde sein Zweck ins Gegenteil verkehrt.

Seit fast einer Stunde war eine mit einer braunen Hose, dunkelgrün-braun gemustertem Pullover und einer tief ins Gesicht gezogenen olivgrünen Baseballmütze vermummte Gestalt dabei, einzelne Steine zu sammeln, zur ausgewählten Stelle zu tragen und übereinander zu schichten. Der Haufen aus Steinen musste so stabil sein, dass die Steine nicht vorzeitig davon rollten, aber so lose, dass ein kleiner Stoß die verheerende Wirkung auslösen konnte.

Jetzt lag eine kleine Ansammlung loser Steine, aufgeschichtet als labiler Turm, direkt über dem Scheitelpunkt der Einfahrt an der Südseite der Lawinenverbauung. Ein verwitterter grauer Holzpfahl, der Rest eines jungen Baumes, vielleicht selbst Opfer einer Naturgewalt, ragte eineinhalb Meter aus dem Steinhügel gegen den Himmel. Sorgfältig eingefügt in die losen Steine des Haufens und mittels eines Gegensteines für eine maximale Hebelwirkung positioniert. Ein einziger Zug nach unten, der wenig Kraft und Zeit erfordern würde, würde reichen, um das wie ein Steinmännchen in den Alpen aussehende Gebilde zu zerstören.

Verdeckt von Büschen und Sträuchern, die im Laufe der vielen Jahre das Bauwerk überwuchert hatten, lauerte die Gestalt, lag in einer kleinen Mulde, in der sich über die Jahre der vom Wind verwehte Samen gesammelt und etwas Gras wachsen hatte lassen. Sie wusste, dass es Stunden dauern konnte, bis einer jener Fahrer auftauchte, der das Ziel sein sollte. Nicht Autos oder Radfahrer, nicht gemächlich dahin cruisende Motorradfahrer, die die Landschaft genossen, sondern aggressive Racebiker, die mit ihrer rücksichtslosen Art andere gefährdeten, sollten büßen.

Es war noch früh am Morgen und es konnte lange dauern, bis die Racer auftauchten, aber sie würden kommen. Die ersten Radfahrer quälten sich die lange Gerade herauf. Einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen hechelten sie die Steigung bergwärts. Stets waren es die Radsportler, die als Erstes auftauchten. Sie nutzten die Kühle des Morgens, weil die Mittagssonne ihre Anstrengungen unerträglich machte.

Das Fernglas glitt über die Hänge der umliegenden Berge. Gämsen sprangen munter über die steilen Geröllfelder, ihr sicherer Tritt war bewundernswert. Selbst die Jungen schienen die Akrobatik bereits zu beherrschen. Wenn der Verkehr im Lauf des Tages stärker werden würde, würden sich die Tiere zurückziehen.

Ein Motorgeräusch war fern zu hören, leise, fast nicht bemerkbar. Nur wegen der Windstille war es vernehmbar. Noch war nicht zu erkennen, welche Fahrzeugart es war. Nichts war zu sehen, nur der Widerhall wurde von den Felsen herübergetragen. Das Fernglas richtete sich ans Ende der Geraden, wo die Fahrbahn hinter einer Linkskurve verschwand, vom Bergrücken verdeckt wurde. Das Geräusch war verschwunden, verschluckt von den steilen Berghängen, über die sich die Straße heraufwand, bis hierher, knapp unter der Baumgrenze.

Ein paar Augenblicke später schob sich ein altersschwaches Auto um die Kurve. Das hochdrehende Motorgeräusch verriet einen im Bergfahren ungeübten Lenker. Bergab würde er bald den typischen Geruch der überforderten Kupplung und der Bremsbeläge nach sich ziehen.

Die Zeit verging langsam. Nach der Radfahrergruppe und dem einzelnen Auto war eine lange Phase ohne jede Bewegung gefolgt.

Nach rund drei Stunden waren nur zwei Tourenfahrer, eine Handvoll Autos und ein paar Radfahrer vorbei gekommen. Eine Dreiergruppe auf Racebikes war aus der Lawinenverbauung kommend talwärts gefahren. Trotz ihrer bollernden Auspuffgeräusche, die von der Kraft des Motors zeugten, waren sie im gemächlichen Tempo dahin gerollt. Dass nur eine Hand den Lenker hielt, bezeugte die entspannte Gemütlichkeit der Fahrt.

 

Gestern hatte das Warten ein Ende. Endlich! Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis Tobi das heiß ersehnte neue Bike bei seinem Händler in Empfang nehmen hatte können. Natürlich war er gleich nach dem die Kennzeichen montiert worden waren, eine Runde gefahren. Der Motorradverkäufer hatte ihm alles genau erklärt, obwohl Tobias in den letzten Wochen ohnehin fast jede Woche im Geschäft gewesen war und jedes Detail des dort ausgestellten Bruders seines neuen Bikes sorgfältig studiert hatte. Als der Quatschkopf seine Erläuterungen endlich abgeschlossen und ihm eine gute Fahrt gewünscht hatte, zündete Tobi den Motor, ließ ihn kurz am Stand blubbern und drehte dann zweimal ordentlich am Gasgriff. Der Zeiger des Drehzahlmessers zuckte jedes Mal kurz in den roten Bereich. Mann, was für ein geiler Sound! Dann fuhr er vom Händler in einer ausgiebigen Schleife zu seiner Garage, wo er das Prachtstück sorgfältig aufbockte und mit einer Abdeckung vor neugierigen Blicken schützte. Morgen fahre ich eine geile Tour, dachte Tobi als das Garagentor zufiel.

Am nächsten Tag war er schon eine Stunde unterwegs und hatte bereits ein gutes Gefühl für das Handling entwickelt, als er in Sölden zu einer Tankstelle abbog. Ohne abzusteigen füllte er den Tank voll und fuhr das Motorrad zum Parkplatz. Als er aus dem Shop zurückkam, umrundeten zwei Motorradfahrer in Rennlederkombis sein heißes Eisen. Wohlwollend erklärte er den beiden die technischen Details, rasselte die Kenndaten über PS und Drehmoment herunter. »Na, mal sehen, ob die auf der Straße hält, was sie verspricht«, provozierte der Kleinere der beiden. »Darauf kannst du Gift nehmen«, entgegnete Tobi den beiden Angebern, setzte sich auf sein Bike, ließ den Motorrad aufheulen, bevor er den Helm überstülpte und die Handschuhe anzog. Absichtlich wartete er, bis auch die beiden anderen startbereit waren und ließ sie dann vor ihm auf die Straße.

Durch den Ort fuhren die drei Biker mit gemäßigtem Tempo, zeigten ihre Lässigkeit durch das entspannte Halten des Lenkers mit der Gashand und die offenen Visiere. Nach der Ortsendetafel drehten die zwei kräftig am Gas. Tobi hatte Mühe, ihnen zu folgen. Nicht, weil sein Motorrad zu schwach war, sondern, weil er ein bisschen Schiss hatte und das Bike doch noch nicht gewohnt war. Nur schön vorsichtig, mahnte er sich selber. Wenn die blöd daher reden, kann ich ja sagen, dass ich das Bike noch einfahre und daher nicht voll aufdrehen darf, rechtfertigte er sich. Ein kurzer Dreh am Gas und schon verringerte sich der Abstand zu den beiden vor ihm. Er hängte sich hinten dran, wollte sich nicht abhängen lassen aber auch nicht überholen. Wieder kam ein kleiner Ort. Die beiden gaben sich betont diszipliniert, glitten langsam voran. Kaum dass sie das Ortsgebiet verlassen hatten, und rissen kräftig am Gas. Tobi hatte damit gerechnet und zog kräftig nach. Dachte ich mir, kommentierte er die Fahrweise für sich. Die drei schossen tief gebückt eine längere Gerade entlang, bis das grelle Bremslicht des Führenden aufleuchtete und er sich provokant entspannt aufrichtete. Sie glitten durch die Haarnadelkurve. Na, eine ordentliche Linie durch die Spitzkehre war das aber nicht gerade, tadelte Tobi die beiden vor ihm. Er gewann an Selbstsicherheit und begann näher aufzufahren. Mal sehen, was ihr drauf habt. Aus seiner sicheren letzten Position und der guten Kenntnis der Strecke fiel es ihm leicht, Druck auf die beiden aufzubauen. Er merkte, dass der vor ihm Fahrende anzog und seinerseits auf den Führenden aufschloss. Die Dreiergruppe wurde schneller. Lange Gerade wurden nur vor ein paar Spitzkehren unterbrochen. Geht ja schon ganz gut, lobte sich Tobi. Er sah, dass die vorderen die Kehren sehr vorsichtig durchfuhren und nahm sich Zeit für eine saubere Linie. Komm schon, mahnte er sich und glitt seitlich von der Sitzbank auf die Kurveninnenseite, hängte seinen Schwerpunkt tief. Na geht doch! Schon ein geiles Gefühl! Er wusste, dass bald die Mautstelle kommen würde und wartete ab, ob die beiden zur Seite fahren würden oder nach Italien rüber wollten. Die Zwei bremsten sich in einer Fahrspur ein, Tobi nahm die parallele. Er wartete, bis auch der Zweite durch den Schranken war und Fahrt aufgenommen hatte. Jetzt zeig ich’s euch! Tobi trat den Gang rein, drehte am Gas und ließ die Kupplung schnalzen. Hui! Ganz schön giftig! Beinahe wäre sein Bike hochgegangen. Adrenalin schoss ihm ein, sein Puls stieg mit der Drehzahl. Er sah an den beiden vorbei nach vorne. Alles frei! Er drehte kraftvoll am Gas und zog sein Bike röhrend am Ersten und dann gleich am Zweiten vorbei. So wird das gemacht, triumphierte er.

 

War es der falsche Tag? Am Wetter konnte es nicht liegen. Der fast wolkenlose Himmel, die Windstille, die milden Temperaturen, all das waren die idealen Bedingungen für das Motorradfahren. Wo blieben heute die aggressiven Racer? Ein Strohhalm wanderte von einem Mundwinkel zum anderen. Noch war Zeit genug. Bis Mittag war noch eine gute Stunde. Wenn bis dahin kein Racer auftauchte, war die sorgfältige Vorbereitung vergebens gewesen.

Schon wenig später schwoll grollendes Motorengeräusch an. Es ließ eine ganze Gruppe vermuten. Das Fernglas suchte die Straße ab. Noch war nichts zu sehen, aber das Geräusch kam näher. Bald würde es hinter dem Bergrücken verschwinden, um dann mit voller Wucht aus der Linkskurve zu kommen. Die Anspannung stieg. Waren das die erwarteten Aggressivlinge? Wenn die Biker aus der Kurve kamen, blieb nur sehr wenig Zeit, um die Entscheidung zu treffen. Das Fernglas sank hinunter. Beide Hände umfassten das Ende des Holzstücks. Der Blick fixierte den Beginn der Geraden. Ein ordentlich beschleunigendes Bike würde für die rund dreihundert Meter nicht einmal zehn Sekunden brauchen. Doch kein Zittern, keine Nervosität verriet die Anspannung. Lange war dieser Augenblick erwartet, ja erhofft worden.

 

Tobi blickte in den Rückspiegel. Na, hab ich’s euch gezeigt? Du Arsch, jetzt siehst du, dass das Bike hält, was es verspricht, beantwortete nun die Provokation von der Tankstelle und zog nochmals voll am Gas.

 

Ein Scheinwerferlicht erschien, ein weiteres folgte, dann noch eines. Das Kreischen der hochdrehenden Motoren zerschnitt die Stille. Das Vorderrad des ersten Bikes stieg kurz in die Höhe, so stark hatte der Biker am Gas gedreht. Die beiden hinteren Maschinen folgten gleich auf, waren schon in der Mitte des Straßenstücks, nun fast nebeneinander, sie schienen sich zu matchen. Ohne weiteren Gedanken wurde das Holzstück nach unten gezogen. Ein paar kleinere Steine, gefolgt von zwei in der Größe eines Motorradhelmes schlugen auf der Fahrbahn auf.

 

»Scheiße! Steinschlag!«, bellte Tobi ins Visier. Verzweifelt verkrampften sich seine Finger am Bremshebel, trat sein Fuß das Pedal durch. Doch zu spät! Er spürte, wie das Geröll gegen das Vorderrad schlug, dieses abrupt blockierte und Tobi aus dem Sattel hob. Scheiße! Verdammte Scheiße!, war das letzte, was Tobi durch den Kopf ging, bevor er heftig auf dem Asphalt aufschlug.

 

Die Gestalt oberhalb wandte sich ab und verschwand ohne einen Blick auf das angerichtete Chaos hinter den Büschen.

 

Die Polizei, die später den Unfallbericht aufnahm, ging von einem Steinschlag, der vom Wildwechsel oberhalb losgetreten worden war, aus. Es wurde vermerkt, dass die Motorradfahrer offenbar zu schnell unterwegs gewesen waren, um die Hindernisse rechtzeitig zu erkennen und auch die Hinweisschilder, die vor dem Steinschlag warnten, ignoriert hatten.